Reinhard Straumann hat das Vorwort des Reinacher Kalenders 2026 verfasst. Es ist eine Zusammenfassung der Geschichte von Reinach von 1707 bis heute. Interessant und Spannend!
Es mag Reinacherinnen und Reinacher geben, die sich vom Kalender 2025 mehr Glamour erhofft hätten. Mehr mondäne Welt. Mehr Reinach-les-Bains. Schliesslich sind wir eine stolze Stadt von 20‘000 Einwohnern, dynamisch, selbstbewusst, gut geführt. Und schliesslich waren wir mal wer: Hüter des Salzregals im Fürstbistum Basel, wichtig! Sogar Hauptstadt des Cantons de Reinach in der Grande Nation, nachdem die napoleonischen Truppen 1797 das Fürstbistum eingenommen und in ein französisches Département verwandelt hatten.
Aber das waren andere Zeiten, als die europäische Politik sich in die Reinacher Chronik eintrug. Zwischen damals und der Wohl- und Mittelstandsgesellschaft von heute war Reinach im Loch. Ein Kaff. Die modernen Zeiten brachen an, und Reinach blieb aussen vor. Die Eisenbahn in Gestalt der Jura-Linie von Basel nach Delsberg, 1875 eröffnet, hätte man gerne gehabt, aber die Betreibergesellschaft bevorzugte die Streckenführung rechts der Birs und brachte Industrie und Arbeit nach Münchenstein, Dornach, Aesch. Wohl gab es den Elfer der Birseck-Bahn seit 1907, aber die Elektrizitätsgesellschaft ging nach Münchenstein, ebenso das Schweizer Fernsehen nach dem Zweiten Weltkrieg (wer weiss das noch?). Und der Basler Flughafen ging nach Birsfelden.
Reinach stand still. Betrieb Landwirtschaft auf steinigen Äckern. Und damit ja keine Neuerungen aufkamen, wachte ein erzkonservativer Priester mit Argusaugen über die gesellschaftliche Moral. Die Reformierten, die nach und nach in sein katholisches Urbi et Orbi eindrangen, galten als Anhänger einer Irrlehre. Der Kulturkampf schwelte vor sich hin.
Reinachs langsame Ankunft im 20. Jahrhundert ist das Thema des Kalenders 2025. Ein Kind fährt Dreirad auf dem Trottoir, die Strasse ist nicht asphaltiert. Ein Tauner, Gelegenheitsarbeiter auf Abruf, steht vor seiner ärmlichen Behausung. Ein Fahrrad fährt über eine gemergelte Gemeindestrasse. Noch ein Kind, noch ein Dreirad, noch kein Asphalt. Ein Feldweg führt von Reinach nach Aesch, irgendwo über den Schlatt.
Doch unversehens bricht die neue Zeit herein. Das Kägen-Quartier wird erschlossen; ein rechtwinkliges Strassennetz legt sich über die ehemaligen Felder des Sternenhofs. Im Dorfzentrum blüht das Gewerbe: Metzgerei Ritter, Konditorei De Stefani, Coiffeur Feigenwinter, Bäckerei Müller. Das Sekundarschulhaus Egerten bezeugt Wachstum und setzt neue Horizonte. Der Verkehr muss mit Ampeln geregelt werden. Architektonische Zeitzeugen der Vergangenheit verschwinden, neue kommen hinzu. Allmählich weicht der dörfliche Charakter der Urbanität. Von der Gemeinde zur Stadt, von zehn- zu zwanzigtausend Einwohnern innert weniger Jahre – plötzlich wird Reinach von Hektik erfasst. Die Probleme, die sich stellen, sind samt und sonders Probleme des beschleunigten Wachstums.
Es hat sich wieder etwas beruhigt, zum Glück. Reinach hat sich im urbanen Format konsolidiert und gefestigt. Entspannt können wir zurückschauen auf die Beschaulichkeit des mittleren 20. Jahrhunderts. Und ein Lob auf die Reinacher Langsamkeit ausbringen, die wir uns, wenn immer möglich, so weit es geht erhalten sollten.
Reinhard Straumann
2025 Stiftung Ernst FeigenwinterSEF
Impressum